Dass Zitronenfalter gemeinhin keine Zitronen falten,
- reufzaat
- 9. Juli
- 6 Min. Lesezeit
dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben.
Was viele nicht wissen: Berufsberater raten keine Berufe – und sie raten auch nicht zu konkreten Berufen.
Wie ich kürzlich wieder im Austausch mit einigen Coaching-Kolleg*innen erfahren durfte, hält sich dieses Bild trotzdem hartnäckig: Berufsberatung sei so eine Art Berufs-Glaskugel, aus der einem ein "passender" Beruf gezaubert wird. Der Berufsberater erteile wie andere Berater Ratschläge und teile Informationen, Coaching sei doch etwas ganz anderes. Oder als gäbe es da draußen irgendwo Berufsberater*innen mit einer geheimen Liste von Berufen, die sie wie Orakel verteilen. Warum das nicht nur falsch ist , sondern dem Berufsbild des/der Berufsberaterin nicht gerecht wird, möchte ich heute erklären.
Wie kommt es zu diesem Missverständnis? Und was macht professionelle Berufsberatung wirklich aus?
Möglicherweise ist der Begriff „Berufsberatung“ irreführend, denn er beinhaltet den „Rat“ im Wortstamm und was wir von gut oder weniger gut gemeinten Ratschlägen zu halten haben, wissen die meisten von uns genau. Aber genau darum geht es in der Berufsberatung eben nicht.
Fangen wir ganz vorne an:
Die Geschichte der Berufsberatung in Deutschland ist älter als viele denken – und eng verbunden mit gesellschaftlichem Wandel und Arbeitswelt.
Berufsberatung entstand mit Fortschreiten der Industrialisierung als Antwort auf den Bedarf, Jugendliche nach der Schulzeit systematisch in den Arbeitsmarkt zu begleiten. Schon damals wurde deutlich: Der „richtige Beruf“ ist selten eine Zufallsentscheidung, sondern braucht Orientierung. Häufig fanden junge Menschen diese in der Familie oder im privaten Umfeld. Die Berufswahl war damals sicherlich auch schon schwer, aber die Arbeitswelt war insgesamt einfacher strukturiert. In der Regel blieb man in seinem Beruf, Brüche in Biographien waren die Ausnahme.
Vielen ist es sicherlich nicht (mehr) bewusst. Über viele Jahrzehnte bis zum Jahr 1998 (!) lag das Monopol für organisierte berufliche Beratung in der Hand der staatlichen Arbeitsverwaltung (heute Bundesagentur für Arbeit). Sie war bis dahin die einzige Ansprechpartnerin für Jugendliche, Eltern und Arbeitssuchende. Und auch wenn ich viele meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen anders erlebt habe, schwingt natürlich immer auch der Gedanke mit, dass eine staatliche Organisation in ihrer Beratung nicht unabhängig sein kann. Und tatsächlich ist die Berufsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit natürlich einer politischen Steuerung unterworfen, schon von Gesetz wegen. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung. Das Wichtige steht in Gesetzen meist ganz am Anfang: „Die Arbeitsförderung soll dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen.“ (§1 SGB III). Das ist die Aufgabe der Arbeitsverwaltung und daran ist auch nichts zu beanstanden, aber vollständige Neutralität kann und darf an dieser Stelle nicht erwartet werden. Trotz allem ist die Bundesagentur für Arbeit bis heute einer der wichtigsten Akteure in diesem Berufsfeld und ist nicht nur entgeltfrei, sondern stellt auch tolle Medien und Studien zur Verfügung.
„Die Diskussion um die Professionalisierung der BBB-Beratung (Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung) begann in Deutschland recht spät, als in den 1990er Jahren die Abschaffung des Alleinrechts der Bundesagentur für Arbeit auf berufliche Beratung bevorstand. Eine explizite Qualitätsentwicklung verstärkte sich infolge von Initiativen der OECD und des Rates der Europäischen Union gegen Anfang des Jahrtausends.“[…] „Auf Initiative des dvb-Fachverbandes wurde im Jahr 1997/98 das BerufsBeratungsRegister e.V. (BBR) gegründet, ein eigenständiger Verein, der Beraterinnen und Beratern die Möglichkeit bot, sich bei Vorliegen hinreichender Voraussetzungen registrieren zu lassen. Das BBR war der erste Vorstoß zur unabhängigen Qualitätssicherung für BBB-Beratende.“ Besser als der dvb Fachverband es formuliert, kann ich es nicht und habe ihn an dieser Stelle zitiert. [Quelle: https://dvb-fachverband.de/bbb-beratung/qualitaetsdiskussion/]
Mit dem Fall des Monopols traten dann aber zunächst Banken und auch Krankenkassen auf den Plan. Dass ihre Beweggründe eher eigennütziger Natur waren, liegt auf der Hand. Auch dies hat möglicherweise dazu beigetragen, dass Berufsberatung nicht als das Instrument wahrgenommen wird, das sie eigentlich ist und wie ich sie in meinem Studium gelernt habe.
Studium, noch so ein Stichwort. Natürlich konnten sich in einem Land, in dem Berufsberatung einem staatlichen Monopol unterliegt, keine entsprechenden Ausbildungsgänge entwickeln und so war, als ich im Jahr 1999 an der Fachhochschule des Bundes meine Beraterausbildung begann, die Bundesagentur für Arbeit das einzige universitäre Ausbildungsangebot, um berufliche Beratung auf akademischem Niveau zu lernen. Und entgegen der landläufigen Vorurteile war es eine gute, interdisziplinäre Ausbildung mit Bezügen zu Psychologie, Pädagogik, Theorien der Berufswahl und Arbeitsmarktexpertise.
Trotzdem musste dieses Pflänzchen in der Bundesrepublik an anderer Stelle erst langsam wachsen. In dieses Vakuum stieß das Coaching. Während die Berufsberatung häufig als informationsbasiert, formalisiert und fremdbestimmt beschrieben wird, setzte Coaching von Anfang an auf Eigenverantwortung, individuelle Zielklärung, Ressourcenorientierung und Partnerschaftlichkeit auf Augenhöhe.
Bis heute hält sich daher hartnäckig das Vorurteil: Berufsberatung gibt Ratschläge, während Coaching von Anfang an (und das vollkommen richtig) als Prozessbegleitung postuliert wurde. Aber stimmt diese Unterscheidung, die man so häufig hört und liest, überhaupt?
Für mich nicht. Und für viele andere Berufsberaterinnen und Berufsberater auch nicht.
Qualifizierte BBB-Beratung orientiert sich an den Bedürfnissen der Ratsuchenden. Oder wie es der Fachverband definiert:
„BBB-Berater*innen unterstützen ihre Klient*innen dabei, ihre Kompetenzen und Interessen als Ressourcen wahrzunehmen, den Blick für Bildungs- und Beschäftigungsperspektiven zu öffnen, berufliche Chancen und Risiken realistisch einzuschätzen und Schwierigkeiten zu überwinden. Beratung trägt dazu bei, dass Rat Suchende ihre Entscheidungen bewusst und eigenverantwortlich treffen und möglichst erfolgreich umsetzen können.“
In unserem Kontext ist berufliche Beratung ebenfalls die Begleitung eines (Entscheidungs)prozesses, der lebenslang angelegt ist, die Menschenwürde als zentralen ethischen Aspekt beinhaltet und der sowohl Evaluation als auch Reflexion unterliegt. Ziel ist es, dass Klient*innen am Ende sagen können: „Jetzt kenne ich mich, meine Ziele und Möglichkeiten besser – und kann selber entscheiden." Die Autonomie des Ratsuchenden ist zentrales Merkmal einer guten Berufsberatung.
Um diesem Ziel gerecht zu werden benötigt der Berufsberater oder die Berufsberaterin einen umfangreichen Methodenkoffer, Kompetenz in der Gesprächsführung und bei Konflikten, die eben nicht lenkt, sondern fragend anleitet, also durchaus viele Elemente, die dem Coaching sehr ähneln bzw. ich keinen echten Unterschied erkennen kann.
Was hinzu kommt? Ein/e ausgebildete/r Berufsberater*in benötigt außerdem Expertise in den Themenbereich Arbeitsmarkt, Ausbildungsgänge, Studienangebot, usw. Diese nutzt sie oder er aber nicht, um seine Klient*innen in eine Richtung zu drängen, sondern Berufsberater*innen teilen ihr Wissen, unabhängig und neutral, um Menschen in die Lage zu versetzen für sich selber gute Entscheidungen zu treffen.
Ist das immer einfach? Gewiss nicht. Ich erinnere mich an meine ersten Gehversuche als angehende Beraterin. Bereits in den vielen praktischen Phasen ließen mich viele großartige Kolleginnen und Kollegen eigene Erfahrungen sammeln und Beratungen durchführen, ein Umstand für den ich bis heute unendlich dankbar bin.
So sah ich mich dann eines Tages einer jungen Frau gegenüber, die mich im Rahmen eines Sprechstundengesprächs wissen ließ, ihr Berufswunsch wäre unumstößlich, entweder „Superstar“ (wir befanden uns in den frühen Anfängen von DSDS, Influencer kannte damals noch niemand) oder „Spielerfrau“. Sicherlich nicht ganz professionell, doch konnte ich mir ein herzhaftes Lachen seinerzeit nicht verkneifen. Aber ich war beeindruckt von der Zielstrebigkeit ihres Wunsches und der Ernsthaftigkeit, mit der sie ihre Auffassung vertrat sowie der Kreativität dahinter. Und so sah ich es eben auch damals schon nicht als meine Aufgabe an, sie von ihren Zielen abzubringen, sondern habe ihr dabei viel Erfolg gewünscht. Wir waren uns auch schnell einig, dass wir als Bundesagentur für Arbeit ihr bei diesen Zielen nur wenig hilfreich unter die Arme greifen könnten. Aber - und so verstehe ich meine Aufgabe - habe ich sie gefragt, ob es denn einen Plan C gäbe, nur für den Fall, dass Plan A oder B nicht greifen würde. Ja, sagte sie mir, in diesem Fall wolle sie auf eine weiterführende Berufsfachschule gehen, Fachrichtung Gesundheit und Soziales. Manchmal ist es dann eben doch einfach.
Natürlich ist so ein niedrigschwelliger Kurzkontakt in einer Sprechstunde noch kein beraterischer Prozess, aber das Beispiel zeigt eben, worum es in meinem Verständnis von Berufsberatung nicht geht, nämlich Ratsuchende in ihrer Entscheidungsfindung zu beeinflussen oder an gesellschaftlichen Normen entlang zu „formen“. Berufsberatung „verkauft“ keine fertigen Lösungen, sondern schafft Orientierung, gibt Impulse, stellt die richtigen Fragen.
Was aus der jungen Frau geworden ist? Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher, sie ist klar gekommen.
Wenn ich all das zusammenfasse, dann wird für mich deutlich: ein Coachingprozess benötigt keine Elemente der Beratung, umgekehrt aber ist eine professionelle berufliche Beratung ohne die Methoden und die Haltung des Coachings eigentlich undenkbar. Denn wer heute Menschen bei wichtigen beruflichen Entscheidungen gut begleiten will, braucht Fachwissen und Expertise. Aber er benötigt eben auch die Fähigkeit zuzuhören, zu reflektieren, Impulse zu geben, Entwicklung zu ermöglichen und dabei stets auf Augenhöhe zu bleiben. Kurz: all das, was gutes Coaching ausmacht.
Deshalb finde ich es an der Zeit, die alten Gegensätze hinter uns zu lassen. Moderne Berufsberatung ist immer auch Coaching. Sie stellt die Klient*innen und deren Autonomie in den Mittelpunkt und nutzt dazu das Beste aus beiden Welten: echte Prozessbegleitung auf Basis fundierter Informationen.
Am Ende zählt, dass Menschen mit Klarheit und Selbstvertrauen ihren eigenen Weg gehen können. So habe ich es in meiner Beraterausbildung kennengelernt. Und deswegen nenne ich mich weiterhin mit Stolz Berufs- und Bildungsberaterin. Und melde mich schnell mal beim dvb an, das hatte ich schon lange vor.
Wann habt Ihr das letzte Mal Beratung oder Coaching genutzt – und was hat am meisten geholfen? Schreibt mir gerne, ich freue mich auf Eure Geschichten!


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